Der folgende Text ist eine verarbeitete Version eines Redebeitrags, der im Rahmen eines Workshops der Gruppe FOR-Palestine auf der Sommerschulung der Jugendorganisation „Revolution“ im Sommer 2016 vorgetragen wurde.
Einleitung
Dieser Beitrag hat die Absicht, einen kurzen Überblick über den Klassencharakter der israelischen Gesellschaft im Zionismus zu geben. Die Hauptquelle für den Beitrag ist das Sammelband „The Other Israel“ (1972) der „Israeli Socialist Organization“, die besser als „Matzpen“ bekannt ist. Der Beitrag befasst sich hauptsächlich mit der jüdisch-israelischen Arbeiterklasse, obwohl die israelische Arbeiterklasse heute auch aus ungefähr 20% Palästinenser*innen besteht. Dazu werden in diesem Beitrag auch die illegalisierten palästinensischen Arbeiter*innen nicht betrachtet, die nach 1967 in die israelische Wirtschaft eingebracht wurden, da diese Analyse den Rahmen sprengen würde.
Historischer Überblick
Dieser Beitrag überspringt wegen des Zeitrahmens die materialistische Analyse der Situation der Jud*innen im Europa bis zum zweiten Welt Krieg und dem Holocaust. Trotzdem sind diese Aspekte für das Verstehen der Situation in Palästina sehr wichtig. Für eine gute Analyse der Position der Juden im europäischen Kapitalismus empfiehlt sich „Die jüdische Frage“ von Abram Leon (1946). Für unsere Analyse reicht aber erst mal die Tatsache, dass es den Juden in Europa relativ konsequent die Möglichkeit gesperrt war, sich in das Fabrik-Proletariat zu integrieren. Von daher war es dem Zionismus als eine Nationalbefreiungsbewegung wichtig, „einen neuen Juden“ aufzustellen, der in einem „normalen Staat“ lebt. Das bedeutete die Gründung einer jüdischen Arbeiterklasse, Bauernklasse und Bourgeoisie in Palästina.
Hierbei liegt auch ein Kernunterschied zum „klassischen“ Kolonialismus – Ziel des Zionismus war es nie, die lokale Arbeiterklasse in Palästina als Arbeiter*innen auszubeuten, um die lokalen Rohstoffe zu plündern und zu exportieren; dessen Ziel war es, die lokale Arbeiter- und Kapitalistenklasse aus dem kapitalistischen Spiel ganz herauszudrängen, um im Lande eine jüdisch-israelische Klassengesellschaft aufzubauen.
Um diese Absicht genau zu verstehen müssen wir uns erst mal drei Doktrine anschauen, die der Zionismus für die Kolonisierung Palästinas benutzt hat:
Kibush Hakarka – Besatzung des Bodens. Nach diesem Prinzip gehört der Boden dem jüdischen Volk und soll nur von ihm bearbeitet werden. Unter diesem Prinzip waren zur Zeit des britischen Mandats mit europäischem Kapital arabische Landstücke gekauft, und weitere wurden während und nach 1948 mit Staatsgewalt beschlagnahmt. Ein wichtiges Organ dafür war die JNF (KKL) – der jüdische Nationalfund.
Kibush Havoda – Besatzung der Arbeit. Nach diesem Prinzip sollten jüdische Firmen nur jüdische Arbeiter*innen einstellen. Dafür war das Hauptorgan die Histadrut, die zionistische Gewerkschaft und die einzige Gewerkschaft im Lande. So hat die Histadrut ein de Fakto Arbeitsboykott auf die Palästinenser*innen gelegt.
Totzeret Haaretz – Produkt des Landes. Nach diesem Prinzip sollten Jüdische Konsumenten nur jüdische Produkte kaufen. De Facto ein Warenboykott auf die Palästinenser*innen.
Mit diesen drei Methoden wurde die lokale Bevölkerung in Palästina schon vor 1948 erfolgreich aus dem kapitalistischen System ausgegrenzt, und es ist dem Zionismus gelungen, nicht nur eine jüdische Klassengesellschaft innerhalb kurzer Zeit im Lande aufzubauen, sondern auch die Entwicklung einer normalen palästinensischen Klassengesellschaft fast komplett zu verhindern. Diese Methoden wurden mit ökonomischen und politischen Mitteln als auch mit Waffengewalt und Angriffe eingesetzt, wie z.B. auf Märkte, Produktionsstätte usw.
Der Klassencharakter der israelischen Gesellschaft
Die israelische Gesellschaft ist eine Migrationsgesellschaft, die meistens aus dem Kleinbürgertum stammt, erst aus Europa, danach auch aus dem Nahost. Aus diesem Grund hat die jüdisch-israelische Arbeiterklasse keine „klassische“ Tradition einer Arbeitsbewegung, um drauf revolutionär aufzubauen. Die Begriffe der Arbeitsbewegung und des Arbeiterbewusstseins im Zionismus sind untrennbar von seiner nationalen und kolonialen Ideologie. Von daher hat die Arbeiterklasse auch relativ wenig Klassenbewusstsein, dafür ein viel weiter entwickeltes nationales, ethnisches und religiöses Bewusstsein. So ist ihr Bewusstsein auch konstant durch externe Faktoren geprägt, die scheinen, diesen nationalen Charakter zu bedrohen – potentielle Kriege, die Gefahr der Assimilierung mit nicht jüdischen Menschen, palästinensische Aufstände usw. Das ist die einfachste Erklärung warum die israelische Arbeiter*innen sich genau wie die Kapitalist*innen gerne, freiwillig und aus eigenem Interesse an der Unterdrückung und Besatzung der Palästinenser*innen beteiligen. Die Priorität der Kämpfe der Arbeiterklasse war seit der Staatsgründung eindeutig klar – nationale Loyalität vor Klassensolidarität. So geht die jüdisch-israelische Arbeiterklasse eine Allianz mit der Kapitalistenklasse ein, um ihre nationale Privilegen zu bewahren.
In der Hinderung des revolutionären Bewusstseins spielt auch die interne Spaltung der jüdischen Arbeiterklasse nach ethnischen Parametern, hauptsächlich durch die Trennung von sogenannten Ashkenazim und Mizrahim, eine große Rolle. Diese Trennung wird durch den Rassismus des Zionismus, der oft auch „intern“ gegen Juden gerichtet ist, sehr zugespitzt, und erklärt weiter warum die Arbeiterklasse sich nicht zu einer revolutionären Klasse erheben kann. Der anti-jüdische oder nicht-weiße Rassismus innerhalb des Zionismus ist ein wichtiges Thema an sich, das hier leider nicht ausführlich diskutiert werden kann.
Imperialismus und der Westen
Israel ist auch ein besonderer Fall im Bezug auf seine Beziehung zum Imperialismus, da es von dem westlichen Imperialismus materiell unterstützt wird, ohne ausgebeutet zu werden. Diese Tatsache hat der Wirtschaft in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung enorme Aufschwünge ermöglicht, und so könnten viele „normale“ Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung und Klassenspannungen zeitweise beseitigt werden. Dazu zählen auch Spendenbeiträge von zionistischen Organisationen außerhalb des Landes wie die Jewish Agency, als auch die Beschlagnahme von Ackerland und Produktionsmittel von Palästinenser*innen.
Die Gelder, die ins Land fließen, landeten damals nicht bei den jeweiligen Kapitalist*innen sondern direkt bei dem Staat und der Histadrut (Heutzutage, nach der Neoliberalisierung und Privatisierungswellen der 80er Jahre, ist die Situation etwas anderes). Auf dieser Art wurden Projekte, die an sich nicht profitable oder nachhaltig waren, wie die Kibbutzim oder die sozialistische-zionistische Labor-Partei, übers Wasser gehalten. All das hat der Histadrut enorme Kontrolle und Macht gegeben, und erklärt die politische Hegemonie der Labor-Partei bis in die 70er Jahren.
Kurz gefasst, geben diese externen Kapitalzuflüsse der israelischen Arbeiterklasse einerseits Privilegien – sie ermöglichen z.B. die Errichtung von sozialem Wohnen für Arbeiter*innen oder schaffen Arbeitsplätze durch Industrialisierung – bedeuteten aber auch, dass der Kampf zwischen den Arbeiter*innen und den Kapitalist*innen nicht um das Zapfen vom Mehrwert geführt wird, sondern um den Anteil an dieser Zuflüsse, also um den Anteil am kolonialen Kuchen. Mindestens seit 1967 spielen dabei auch die Rohstoffe und Ackerland des Westjordanlands eine Rolle, in dem auch ein de fakto Wohlfahrtsstaat für die Siedler*innen existiert. So wird der Klassenkampf weiter entschärft zu Gunsten des nationalen Bewusstsein.
All das zeigt uns, wie die Beziehung zwischen dem Zionismus und dem westlichen Imperialismus ein weiterer Faktor ist, der das revolutionäre Potential der israelischen Arbeiterklasse unterdrückt. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, warum das revolutionäre Bewusstsein der israelischen Arbeiterklasse sich unter der Allianz des Zionismus und Imperialismus nicht entwickeln kann. Wir haben im Grunde genommen mit einem Doppelcharakter der jüdischen Arbeiterklasse als Unterdrücker und Unterdrückte zu tun, und sehen, dass sie sich konsequent für ihre Rolle als Unterdrücker entscheidet.
Fazit
Jetzt ist die große Frage für uns als Revolutionär*innen, woher ein Bewusstseinswandel kommen kann. Dieser Beitrag dient zu argumentieren, dass ein wirklicher Bewusstseinswandel unter dem Zionismus nicht möglich ist. Dass der Zionismus an Macht verliert und gekämpft wird ist eine Grundvoraussetzung für die revolutionäre Arbeit auch innerhalb der jüdischen Arbeiterklasse. In der Geschichte gab es oft versuche der Agitation unter den Arbeiter*innen durch mehr oder minder avantgardistische Gruppen wie Matzpen, „Demokratie oder Aufstand“, „Soziales Wohnen Team“ oder andere, mit verschiedenen Methoden und politischen Ideologien und mit unterschiedlichem Erfolg. Keine davon führte zu einem internationalistischen Kampf israelischer Arbeiter*innen, der gegen den Zionismus als kapitalistischen Ausbeuter als auch als kolonialen Besetzer gerichtet war.
FOR-Palestine ist der Meinung, dass solange die jüdische Arbeiterklasse von ihrer Position als Besatzer und als Verbündete des Imperialismus profitiert, so lange dass sie sich unter dem Zionismus als eine ethnisch homogene Klasse versteht, kann bei ihr keine Bewusstseinsänderung stattfinden. Erst wenn ihre Privilegien gefährdet werden und an der Hegemonie des Zionismus geschüttelt wird, könnte die doppelte Unterdrückung der jüdischen Arbeiterklasse durch den Zionismus als neoliberaler Ausbeuter und als zionistischer Besatzungsstaat entblößt werden. Als die geeignete Methoden dafür sehen wir die Solidaritätsarbeit von außen und die BDS-Kampagne als auch den palästinensischen Widerstand in all ihren Formen im Lande. Erst wenn die israelische Arbeiterklasse von ihren Privilegien als Besatzer weniger profitieren wird, als sie als Arbeitskraft ausgebeutet ist, könnte sich bei ihr ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln.