Orthodoxer Jude unter arabischen Flüchtlingen
Am 24.1.2016 lief ein Kippa tragender Jude in die Flüchtlingsunterkunft im Tempelhof, von einem Videoteam der Welt.de begleitet, auf der Suche nach Zeichnen des Antisemitismus und Judenhass unter Flüchtlingen. Die meistens waren erst vor ein paar Monaten aus den Schlachtfeldern der imperialistischen Kriege in Nahost geflüchtet. Dieser mutige Kämpfer für Toleranz, namens Yonatan Shay, ist fündig geworden: Ein mit Stift gemaltes Hakenkreuz, so wie es z.B. auf Spielplätzen im Süddeutschland üblich ist, und eine Landkarte Palästinas, mit den Farben der palästinensischen Fahne geschmückt. Eine ältere Dame, die gehört hat, dass er das zerstörte palästinensische Dorf Sheikh-Munis als „Tel-Aviv“ bezeichnet, hat ihm und seinem Kamerateam den Rücken verdreht. Für Shay war es wie eine zweite Kristallnacht. Aufgeregt und gestört stand er vor der Kamera und erklärte, es ist wohl in Ordnung, dass Deutschland ihren historischen Verpflichtungen nachgeht und Geflüchtete aufnimmt, aber – „Hier leben Juden“.
Das Video wurde schon fast eine halbemillion Male gesichtet, und über drei Tausend Mal geteilt. Von daher ist es keine Randerscheinung, kein armseliges anti-deutsches Blog oder unwichtiger Infoabend. Das Video ist eine wichtige Entwicklung des zionistischen Eingriffs in die deutsche Asylpolitik und des zionistischen Angriffs gegen die globale Solidaritätsbewegung mit Palästina. Es ist wichtig, diese Gesichtspunkte zu analysieren und zu verstehen.
Antisemitismus als zionistisches Mittel
Wenden wir uns erstens kurz dem Thema „Antisemitismus“ allgemein. Immer wieder muss betont werden, dass Antisemitismus als Judenhass, also als Diskriminierung einer ethnischen und religiösen Minderheit (abgesehen davon, dass der wahre Begriff Hass gegen Semiten bezeichnet, also auch gegen arabische Menschen), ein europäisches Phänomen ist. Ein Phänomen, das seinen Höhepunkt in der allergrößten Erscheinung des Judenhasses fand – der deutsche Genozid an die Jud*Innen. Hakenkreuze sind kein arabisches Symbol, sondern wurden durch das NS-Regime aus indischen Kulturen angeeignet.
Der wiederholte Versuch, arabische Menschen als Antisemiten darzustellen, bedient bei der deutschen Gesellschaft ein klares Bedürfnis, nämlich ihre eigene Vergangenheit dadurch zu relativieren, und die Fackel des Antisemitismus weiterzugeben und loszuwerden. Ein palästinensischer Flüchtling aus Syrien, der sein ganzes Leben in den Lagern verbracht hat, wohlwissend, dass es jüdische-zionistische Militärgruppen waren, die ihn zum Flüchtling gemacht haben, ist nicht mit einem Deutschen Bürger gleichzusetzen, der 1938 die Vertreibung und den Genozid aller deutschen Juden unterstützt hat. Solche Gleichsetzung, die heute in Deutschland nur beliebter wird, ist rassistisch, hetzerisch und relativiert den deutschen und europäischen Antisemitismus und seine Nachfolgen.
Aber solche Propaganda-Aktionen, wie die der Welt.de, bedienen noch ein zweites Bedürfnis der deutschen Gesellschaft. Ein Bedürfnis, das Jahrzehnte lang unterdrückt war, dessen Herz aber anscheinend nie aufhörte zu schlagen – den Wünsch nach einer „reinen“ Gesellschaft. Es ist kein Geheimnis, dass viele Deutsche die Geflüchteten nur aus Zwang willkommen heißen – aus dem Zwang heraus, nicht rassistisch aufzutreten so wie damals. Aber bei vielen Teilen der Gesellschaft bebt der Wille nach einer reinen abendländischen Kultur. Um aber nicht so wie damals zu sein, haben Teile der Gesellschaft den passenden Namen für diese Kultur gefunden – „Die Judeo-Christliche Kultur“, der stolz auf Transparenten bei Pegida-Demos getragen wird. Die deutsche Gesellschaft, nachdem Deutschland den zweiten Weltkrieg verloren hatte, ist bereit, die Kultur der damaligen Opfer in sich aufzunehmen (solange es um westlische-jüdische Kultur geht), um gleichzeitig die islamische Kultur von so vielen Menschen auszugrenzen. Der Videobericht der Welt.de zeigt dies auch unverhohlen: Wenn sie herkommen wollen, müssen sie verstehen: dies ist ein Ort der Juden und Christen. Wie das Rad der Geschichte sich dreht.
Aber wer ist eigentlich dieser „Orthodoxe Jude“, der auf seinen Facebook-Fotos kaum eine Kippa trägt und in der Vergangenheit sogar hetzerische Kommentare gegen Orthodoxe Juden veröffentlichte? unserer Analyse fehlt noch ein ganz wesentliches Teil.
Die AJC
Auf dem Video der Welt.de selbst ist nicht ersichtlich, wer dieser Yonathan Shay eigentlich ist, und warum er eines Tages mit einer Kippa in eine Flüchtlingsunterkunft gegangen ist. Eine kurze Internet Suche ergibt, dass Shay behauptet, wegen seiner Kippa mehrmals von muslimischen Menschen in Berlin angegriffen worden zu sein. Aber da steckt was Wichtigeres dahinter, was für uns als Linke und als Aktivist*Innen der Palästina-Solidarität enorme Wichtigkeit hat.
Auf ihrer Webseite und in deren sozialen Medien ist zu sehen, dass Shay für die AJC arbeitet, und er war auch im Auftrag der selbigen im Flüchtlingsheim. Die AJC, oder die American Jewish Committee, ist eine zionistische Lobby-Gruppe, die in den US gegründet wurde und in über 20 Städten Weltweit ihre Büros hat. Ähnlich wie die ADL, die Anti Defamation League, arbeitet die AJC hauptsächlich so, dass sie zionistisches Agenda durch Vorwürfe des Antisemitismus umsetzt. Eine wichtige Strategie darin ist die Änderung der juristischen Begriffe des Antisemitismus, damit sie auch Antizionismus enthalten (LINK). Die AJC hat auch schnell nach dem Video eine Pressemitteilung herausgebracht, in der sie eine „Demokratiegipfel“ fordert, um den Antisemitismus unter Geflüchteten zu bekämpfen (LINK). Da es schwer zu glauben ist, dass die Idee für so einen Gipfel so spontan kam, kann man annehmen, der Besuch Shays im Tempelhof war dafür inszeniert, um dieser Forderung einen Anlass zu geben.
Uns als Aktivist*Innen der Palästinasolidarität in Berlin ist die AJC nicht fremd. Auf den Demos in Berlin gegen die Massaker in Gaza 2014 haben wir mehrmals Kameraleute mit Namensschildern der AJC gesehen, die, wenn wir sie angesprochen haben, schnell davon liefen. Ihr Material aber hatten sie schon: die kleinen Gruppen von Jugendlichen, die die Parole „Jude, feiges Schwein“ skandiert haben, haben sie gefilmt und in die Presse gebracht. Es folgte eine immense Kampagne zur Diffamierung und zum Verbot der Demos, und wir und unsere Genoss*Innen wurden Wochenlang in der Presse als Antisemiten gebrandmarkt. Das hat zu steigender Aggressivität seitens der Polizei geführt, wie z.B. nach der Demo vor der israelischen Botschaft, und zum Verbot weiterer Parolen.
Wer Kinder mordet ist Kindermörder
Und dieser Prozess geht weiter. Jetzt ist auch die Parole „Kindermörder Israel“ – eine Parole, die die Situation in Gaza wie keine andere beschreibt – auch durch die Polizei mit der Begründung des Antisemitismus verboten. Der Tag ist nicht weit, an dem auch die Parole „Boycott Israel“ verboten wird. Wenn die Landkarte Palästinas ein antisemitisches Graffiti ist, ist unsere ganze Arbeit gefährdet.
Wenn wir als Linke geschwiegen haben, als die AJC die Demos für Gaza mit allen politischen Mitteln angriff und delegitimierte, wenn die Reaktion der Linke zu der damaligen Hasskampagne die war, „getrennte“ Demos zu veranstalten, auf denen „Allahu Akbar“ und „Kindermörder Israel“ nicht erwünscht waren, haben wir jetzt kein Recht darauf, angesichts des Videos unsere Augen zu verdrehen. Die zionistische Propaganda ist wie die Besatzung selbst: wenn es auch einen kleinen Halt gewinnt, lässt es nicht los, bis das ganze Gebiet erobert wird. Wir kennen die Vergangenheit – die Kampagnen von 2014- und die Gegenwart -das Video aus Tempelhof. Wenn wir die Zukunft sehen möchten, müssen wir nur nach Frankreich schauen, wo BDS heute beinah illegal ist.
Wenn wir diese Propaganda nicht aus unseren eigenen Köpfen verbannen und zu Tat greifen, wenn keine Massen von anti-zionistischen Jud*Innen auf die Demos kommen und laut sind, wenn linke Gruppierungen keine klare Position beziehen gegen den Zionismus und gegen Antisemitismus-Vorwürfe, wenn Antira und Refugee-Support Gruppierungen nicht verstehen, dass „Fluchtursachen Bekämpfen“ auch der Kampf gegen den Zionismus ist, dann werden sehr schnell diejenigen, die in Deutschland für Palästina sprechen, verfolgt, illegalisiert und verboten werden, und diejenigen, die nichts gesagt haben, werden ihren Beitrag für den Sturz unserer Gesellschaft in den Abgrund antimuslimischen Hasses geleistet haben. Jetzt ist die Zeit für eine klare und mutige Stimme gegen den Zionismus.
FOR-Palestine, Berlin 2016